"Interview: Placebo"

Discover, Sep'98

Der Rock'n'Roll-Lifestyle kann dich ganz schön in den Dreck ziehen und deine Seele in den Mixer jagen

Dass Placebo sich allerdings von diesem Rock'n'Roll-Lifestyle noch lange nicht unterkriegen lassen, erzählten sie Ralph Buchbender in einem ungewöhnlich ausführlichen Interview.


?: Brian spricht ungefragt zum neuen Video "Pure Morning":

Brian: Wir haben es in Amerika gedreht, weil wir die Atmosphäre einer amerikanischen Großstadt einfangen wollten. Amerikas Städt sind einfach universeller, jeder kennt das Flair von New York, egal, ob er schon mal da war oder nicht. Wir haben das Video deshalb dort gedreht, nicht weil wir glauben, so den amerikanischen Markt sprengen zu können. Englische Städte wirken immer so verstaubt und steif, das schien uns nicht das richtige Ambiente zu sein.


?: Habt ihr das Gefühl, die Ziele, die ihr euch vor dem ersten Album gesteckt habt, auch erreicht zu haben?

Brian: Das erste Album war unserer Meinung nach voller Energie, lostful und strahlte eine helle Schönheit aus. Das neue Album ist emotionaler, intensiver, geht mehr in die Richtung Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Es ist wie ein Coming Down nach einem euphorischen Hoch, eine Art erste Depression.


?: Mir fällt auch noch Melancholie dazu ein...

Brian: Ja, wenn das erste Album Sex zum Inhalt hatte, dann handelt das zweite von den unangenehmen Folgen und Konsequenzen daraus oder einer Beziehung generell. Auf dem ersten Album waren sehr viele Lovesongs und eigentlich wollte ich beim zweiten Album mehr über andere Sachen schreiben, aber ich hatte in der Zwischenzeit eine Menge fucked-up-relationships und konnte mich nicht wirklich thematisch davon lösen. Also musste ich diese Eindrücke irgendwie zu Papier bringen.


?: Das schlägt sich aber auch musikalisch wieder.

Brian: Richtig. Das kommt auch durch die Veränderung im Line-Up, Steve Hewitt verließ die Band, kam dann aber wieder und mit ihm gewannen wir Selbstvertrauen in unserem Songwriting. Ich habe mich auf einmal getraut, komplexere Sachen zu schreiben, wir haben mehr Selbstvertrauen in unsere technischen Fähigkeiten an unseren Instrumenten gewonnen und so wollten wir immer mehr ausprobieren. Wir gehen jetzt öfter ganz dicht an unsere Grenzen. Mit Steve in der Band ist die Atmosphäre innerhalb der Gruppe wieder etwas familiärer und vertrauter geworden. Irgendwie ist es wie "Placebo Mark II", ein neues Kapitel, eine neue Ära.


?: Warum hat Robert die Band nach zwei Jahren wieder verlassen? Der Start mit dem Debütalbum war doch sehr vielversprechend.

Brian: Wir konnten einfach nicht mehr zusammen Musik machen, weil unser Verhältnis auf ein sehr allgemeines Level abgesunken war. Aber Placebo ist keine Musik-Zweckgemeinschaft, also verließ Robert die Band. Danach begaben wir uns auf die Suche nach einem neuen Drummer, konnten aber so schnell keinen finden, der auch menschlich zu uns passte. Also machte ich Steve ein Angebot, das er einfach nicht ausschlagen konnte und so verließ er Breed und kam zu uns zurück.

Steve: Er drohte mir Prügel an, und nun ja, hier bin ich.


?: Steve, du warst von Beginn an wieder direkt ins Songwriting zur neuen Platte involviert?

Steve: Ja, schließlich bin ich ja auch schon wieder seit zwei Jahren dabei, kurz nach der ersten Tour zu unserem ersten Album. Wir haben sehr lange an dem neuen Album herumgeschrieben, immer mal wieder neue Ideen vorgetragen, experimentiert und vieles auch direkt wieder verworfen. Aber wir merkten auch schon bei den ersten Proberaumsessions, dass wir gut miteinander kommunizieren können.

Brian: Ja, wir treiben uns ständig neu an. Wir entwickeln jetzt schon wieder neue Ideen für das nächste Album und proben schon wieder neue Stücke ein. Wir können gar nicht aufhören, zu schreiben... im Moment. Dazu kommt, dass wir auch ähnliche persönliche Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht haben. Das stellten wir bei den Arbeiten zum neuen Album immer mehr fest und so vollzog sich unser Stilwandel während des Schreibens während wir unsere jüngsten Vergangenheiten austauschten.


?: Kannst du einen Song auf dem neuen Album benennen, der diesen Turning Point markiert?

Brian: Nein, eigentlich gibt es diesen spezifischen Song nicht. Wir hatten ja auch schon auf dem ersten Album langsamere Songs, aber dieses Mal gehen sie noch eine Spur tiefer. Es war ein unbewusster Prozess, eine Art Trieb, den man erst bemerkt, wenn es vollbracht ist. Vielleicht lag es daran, dass wir uns diesmal mehr von der Außenwelt abgetrennt haben als sonst. Wir haben viel mehr Zeit außerhalb unseres gewohnten Umfelds verbracht, vielleicht haben wir dadurch die Leiden entdeckt, die uns schon seit Jahren inne waren, die wir aber bisher nicht bearbeitet hatten.


?: Meinst du auch die Zeit des Tourens oder meinst du nur die Zeit während des neuen Songwritings?

Brian: Gerade wenn du tourst, laufen ein paar sehr merkwürdige Dinge ab. Du begegnest Situationen, in die kein normaler Mensch kommt, du lebst in Extremen, die man sonst nicht kennenlernt. Das haben wir nun zum ersten Mal in größerem Stil erlebt und das hat uns ganz schön mitgenommen. Während der Tour haben wir schon Songs geschrieben, "Brick Shithouse" ist quasi während eines Soundchecks entstanden.

Steve: Du hast auf einmal mehr Zugang zu dir selbst, mir ging es auf jeden Fall so. Schon während der Tour verwandelte sich unser Anspruch an unsere Musik und unsere Herangehensweise. Vom simplen Rock-Feeling kamen wir zu den Dingen, die uns schon seit Jahren beschäftigten, und wir wollten mehr Emotionen auf die Bühne bringen.

(Brian hatte mir am Anfang der Interviewsession eine neue Version von "Teenage..." vorgespielt, darauf nimmt er im folgenden Satz Bezug)

Brian: Das ist der Unterschied zwischen "Teenage..." und der neuen Version des Songs, der sehr melancholisch geworden ist, den wir während unserer Tour immer mehr dahin verwandelten. Wir wollen den Umfang unseres Könnens immer mehr erforschen und die Tendenz geht in Richtung Melancholie. Aber wir können heute von uns sagen, wenn wir dahingehen, dann gehen wir wirklich in die Richtung, es ist kein Rumspielen mehr, die Emotionen sind Wirklichkeit, wir brauchen niemandem mehr etwas vorzugaukeln. Wenn du uns bei unserer nächsten Tour auf der Bühne stehen siehst, dann siehst du uns wirklich. Das ist Placebo.


?: Eure Melancholie, gerade in Songs wie "My Sweet Prince" erinnert mich ein bisschen an Gene Loves Jezebel.

Brian: Wirklich? Ich habe Gene Loves Jezebel noch nie gehört.


?: Gerade die Traurigkeit und Melancholie in deiner Stimme kommt der des 93-er Albums von Gene Loves Jezebel sehr nahe.

Steve: Bei "My Sweet Prince" kommt sie meiner Meinung nach hundertprozentig genau auf den Punkt. Das ist der perfekte Sad-Song.

Brian: Ja, bei dem Song kann man kaum noch tiefer gehen, ich meine, grundsätzlich ist es das, was wir wollen, noch tiefer in uns zu schauen und noch mehr Emotionen aufzurühren.

Steve: Wenn du einen ganzen Tag an so einem Song wie "My Sweet Prince" gearbeitet hast und du dir dann das fertige Lied anhörst, dann macht dich das so happy-sad, dass du am liebsten aus dem Fenster springen würdest.

Brian: Du lachst, aber das wollte er wirklich. Naja, zumindest hat er es nach den zwei Tagen, die wir für den Song gebraucht haben angedeutet.

Steve: (macht die Situation von damals nach) Aaahh (seufz), und jetzt möchte ich vom Hochhaus springen.


?: Springen, nicht gehen wie im Video?

Steve: Nein wie dein Aufkleber: Suicidal Tendencies.


?: Ihr habt nach dem ersten Album sehr viel Optimismus in der Presse versprüht. Ist dieser Optimismus trotz eures melancholischen Stilwandels geblieben?

Brian: Unbedingt, aber wir haben festgestellt, dass jedes kleine, blöde Detail, das du über ein Rock'n'Roll-Leben gehört haben wirst, tatsächlich wahr ist. Und das war eine große Enttäuschung. Denn sie sind nicht nur wahr, sondern noch schlimmer, als das, was man hört.

Steve: Zuviele Kater und so.

Brian: Der Rock'n'Roll-Lifestyle kann dich ganz schön in den Dreck ziehen und deine Seele in den Mixer jagen, oder noch besser in den Fleischwolf. Es ist desillusionierend, festzustellen, dass er deine Wünsche nicht erfüllt, zum Beispiel meinen Wunsch noch mehr Musik machen zu können, noch kreativer zu sein. Im Gegenteil, es hindert dich daran, kreativ zu sein. Und wir als Placebo fühlen eine grundsätzliche Notwendigkeit, Musik zu machen. Ohne das würden wir ziemliche fucked-up-people darstellen. Aber es hat unseren Optimismus in unsere Fähigkeiten und unser Potenzial nicht beeinflusst. Wir führen ohnehin ein sehr schizophrenes Leben, unser Job bietet eine Menge Unsicherheiten und auch Unverschämtheiten, auch das reflektieren wir auf "Without You I'm Nothing".


?: Es wird euch nachgesagt, ihr wäret Zöglinge von David Bowie, der eure Karriere nicht unerheblich gefördert haben soll.

Brian: Er hat uns zu seinem 50sten Geburtstag in den Madison Square Garden eingeladen, dort spielten wir als Opener. Und wir sind insgesamt dreimal mit ihm auf Tour gewesen. Natürlich hilft es dir, wenn ein David Bowie dich einlädt, ihn auf seiner Tour zu begleiten und wir haben das auch sehr gerne getan. Wir mögen ihn und er mag uns. Aber das ist es auch: Er mag uns und unsere Musik, nein, die Musik zuerst, eben und das ist es. Ist doch nett, einen so großartigen Musiker wie David Bowie schon mit deinem Debütalbum beeindruckt zu haben. Es hat uns nicht zu unrecht mit Stolz erfüllt, aber es hatte keinerlei Einfluss auf uns als Band oder auf unsere nächsten Ziele.

(Ich hatte eine alte Pressemitteilung rausgekramt, in der sich Brian über die Rolle Placebos in der Britpop-Ära ausließ. Noch bevor ich eine Frage stellen konnte, riß er mir den Zettel aus der Hand und sagte nur: "Es gibt keinen Britpop mehr, end of the story", zerknüllte ihn und schmiss ihn hinter einen Schrank.)

Brian: O.k., next question. Im Ernst, Britpop ist doch toter als tot, Blur undOasis sind jetzt amerikanische Bands und Placebo waren nie wirklich eine britische Band. Deshalb hat Steve uns ja das erste Mal verlassen. Aber dann hat er eingesehen, dass wir Recht hatten.

Steve: Und dieses großartige Angebot, dass ich nicht ausschlagen konnte...


?: Eure Reise in euer Inneres führte euch wahrscheinlich auch zwangsläufig zurück in eure Vergangenheit. "Burger Queen" könnte ein Ergebnis eurer Vergangenheitsbewältigung sein, denn eigentlich lautet der Refrain ja Luxemburger Queen, eine Erinnerung an eure gemeinsame Jugend (Brian und Bassist Stefan Olsdal verbrachten ihre Jugend in Luxemburg)?

Brian: Zuerst einmal haben wir den Song nur "Burger Queen" genannt, weil er so mehr Aufmerksamkeit erregt als Gegensatz zu Burger King quasi. Das fällt vom Titel her eben mehr auf. Aber es ist kein autobiographischer Text, wenn du das meinst. Der Song handelt von fiktiven Gestalten. Stefan und ich sind in Luxemburg aufgewachsen, haben eine Menge Zeit dort verbracht und wir mögen Luxemburg sehr. Unsere Erinnerungen daran sind wirklich guter Natur, obwohl dort nie allzuviel passiert. Aber wir hatten schon immer das Gefühl, dass wir eines Tages da raus müssen, um anderswo ein anderes, besseres, aufregenderes Leben zu führen, als es in Luxemburg möglich gewesen wäre. Aber die Person, um die es in dem Song geht, übrigens ein sehr, sehr trauriger Song, ist ein Mensch, der sich unglaublich einsam fühlt, der glaubt, er wäre ultimativ allein, entfremdet und abgetrennt von allem, was ihn umgibt. Der Charakter ist schwul und nimmt Drogen, und das ist schon schlimm genug, ohne in Luxemburg zu wohnen. Aber wenn alles drei zusammenkommt, dann Gnade dir Gott, dann ist es fucked. Der Song handelt von so einer Person, die sich in ihrer Umgebung wie ein Fremder und sogar in sich selbst wie ein Fremder vorkommt. Aber es ist wirklich nur eine Story, hat nichts mit mir zu tun.


?: Weshalb hast du dann Luxemburg als Ort für die Handlung ausgesucht?

Brian: Weil ich da weiß, wovon ich rede. Ich möchte immer alles sehr genau nachvollziehen können, wenn ich über etwas schreibe. Und die Situation dieses Menschens kann ich nachvollziehen, weil ich Luxemburg kenne. Schwul und drogenabhängig in Bombay, davon habe ich keine Ahnung, so einen Song könnte ich nicht schreiben.


?: Placebo ist keine One-Hit-Wonder-Band, euch verfolgt kein "Creep", obwohl "Nancy Boy" sicherlich eine Underground-Hymne in den Clubs war. Wie denkt ihr darüber?

Brian: Glücklich, ja wir haben damit wirklich Glück gehabt. Wir hatten mit dem ganzen Album mehr Erfolg, als wir uns jemals erträumt hätten. Natürlich erwarten auch die Besucher auf unseren Konzerten, dass wir "Nancy Boy" spielen, aber wir tun es gerne, weil es nicht derselbe Druck ist, als hätten wir einen Welthit geschrieben, der wie eine Bombe eingeschlagen ist. Aber ich muss dennoch sagen, dass mich der Erfolg von "Nancy Boy" ein bisschen davon abgehalten hat, so einen Song nochmal zu schreiben. Zum einen, weil ich wirklich kein neues "Nancy Boy" kreieren wollte, und wir uns nicht wiederholen wollten, aber vor allem, weil ich unsere Publikum neu herausfordern wollte, mit neuen Songs und einen neuen Stil. Ein Live-Publikum immer wieder neu zu unterhalten, ist die größte Herausforderung für mich. "Nancy Boy" ist nur eine Art Spot auf Placebo im Jahre 1996, zwei Jahre später sollte und muss neu fokussiert werden. In unserer Bandhistorie soll "Nancy Boy" einmal nicht mehr sein als Hit No.1!


?: Hat euch auch der Erfolg von Radiohead auf die Melancholie-Spur gebracht?

Brian: Nicht unbedingt. Wir finden "O.K. Computer" auch nett, obwohl sie mir am Ende zu Pink Floyd-mäßig rüberkommt, aber Radiohead sind keine Inspirationsquelle für uns. Thom verarbeitet seine seelischen Tiefs und Hochs und wir verarbeiten unsere. Da mag es ungewollte Parallelen geben, aber musikalisch gibt es da keine Gemeinsamkeiten. Meine emotionale Power ist auch mehr introspektiv als Thoms. Er bezieht sich immer auf die ganze Welt, während ich das nicht kann. Ich kenne mich ja nicht einmal in mir selbst aus.

Steve: Es gibt andere Platten, die wir in letzter Zeit oder im letzten Jahr viel öfter gehört haben als Radiohead, DJ Shadow zum Beispiel, "High Noon" ist ein fantastischer Song.


?: Ich habe schon gehört, dass Steve ein Fan elektronischer Musik ist, kommt diese Zuneigung auf dem neuen Album nicht ein bisschen zu kurz für dich?

Steve: Definitiv nicht. Ich mag zwar diese Art von Musik aber wir wollen Rockmusik machen. Trotzdem habe ich mich natürlich riesig auf die Zusammenarbeit mit Steve Osborne gefreut, der ja auch schon mit den Happy Mondays und U2 zusammengearbeitet hat und viele Remixe für Bands macht.

Brian: Ja, wir wollten einen Produzenten, der mehr im Kontrast zu uns steht, als dass er rein auf unserer Welle ist. Wir wissen unserer Meinung nach genug über Rockmusik, also brauchten wir einen Produzenten, der etwas von Technologie versteht. So konnten wir mit Hilfe der Maschinen, die uns fremd waren, eine Art eklektischen Mix fabrizieren, der uns den modernen, forward looking sound brachte, den wir haben wollten.


?: War er in euer Songwriting involviert?

Steve: Steve (Osborne) ist ein Technik-Freak, er hat uns nur geholfen, den richtigen Weg zu unserem Sound zu finden, aber er war nicht an einem kreativen Part beim Songwriting beteiligt.

Brian: Er bekam unsere Demos und dann entwickelte er eine Art Strategie, wie die Songs möglichst unserer Idee entsprechend klingen könnten. Deswegen ist das neue Album auch komplexer auf dem Sonic-Level, das erste Album klang vielleicht ambitionierter aber auch oberflächlicher. (Dann zählte er wieder Bands auf, die er in letzter Zeit oft gehört hat) Ich habe mir Jeff Buckley oft angehört, mit ihm hat die Welt einen großartigen Songwriter verloren. Das neue Album habe ich regelrecht verschlungen.


?: Trotzdem habe ich den Eindruck, dass ihr mehr mit euch als mit anderen Bands beschäftigt wart.

Steve: Exactly. Wir benutzen die Musik anderer nur, um uns ein bisschen abzulenken, aber sie spielt keine Rolle für unseren Sound. Um unique zu bleiben darfst du nicht den Sound anderer klauen oder versuchen, etwas darzustellen, was nicht von dir selbst kommt. Alles muss von innen heraus kommen und das ist es, was uns so stolz auf "Without You I'm Nothing" macht.


?: Brian hat gesagt, er wünsche sich eine Reaktion zwischen bestürzt und entzückt vom Hörer des neuen Albums. Was genau meinst du damit?

Brian: Wir wollten, dass das Album eine klare und eindeutige Reaktion hinterlässt und kein Wischi-Waschi-Feeling. Die Leute sollen uns wirklich lieben oder richtig hassen, ich will nichts dazwischen. Es ist wichtig für mich, dass meine Musik einen Effekt beim Publikum erzeugt, ganz gleich welcher Natur, aber es macht mich nichts trauriger, als wenn ich erfahre, dass es Leute gibt, die unsere Musik völlig kalt lässt. Ich will Reaktionen! Und zwar extreme Reaktionen. Dann erst weiß ich, dass ich das Richtige tue.


?: Das heißt, du willst auch provozieren?

Brian: Nicht wirklich. Ich will nicht absichtlich provozieren. Ich will nur mich selbst darstellen. Wenn ich als Person andere provoziere, weil ich bin, wie ich bin, dann geht das auch in Ordnung. Aber ich will keine künstlichen Provokationen schaffen. Meine Aggressionen provozieren Leute oft, weil ich sie nicht zurückhalten kann. Wenn ich wütend bin, dann muss ich das auch zeigen. Das geht mir auch mit anderen Emotionen so. Ich möchte frei sein, mich wirklich selbst ausdrücken zu können, mich ständig und überall selbst verwirklichen können. Ich mag keine Schauspielerei als Musiker. Unsere Musik reflektiert unser Innerstes, und wenn jemand unsere Musik attackiert, dann attackiert er unser Herz und unsere Seele. Unsere Musik ist so eng mit unserem Leben verbunden, sie ist ein Teil unsere Seele.

Steve: Wir werden oft gefragt, ob unser Album eine Art Momentaufnahme unseres Lebens ist, aber das ist es nur bedingt. Denn das Songwriting für "Without You I'm Nothing" zog sich über vier Jahre, in denen wir uns natürlich nicht immer gleich fühlten. "Scared Of Girls" ist ein Song, den Brian schon geschrieben hatte, als noch nicht einmal ich in der Band war.

Brian: Es ist definitiv kein Snapshot eines bestimmten Zeitabschnitts, sondern zeigt die Entwicklung von Placebo seit der Gründung bis zum jüngsten Song "Pure Morning", den wir erst im April geschrieben haben.


?: Warum war dann "Scared Of Girls" nicht auf der ersten Platte?

Brian: Weil wir es nie aufgenommen hatten, es tauchte nicht einmal auf unseren Live-Playlisten auf. Irgendwann erinnerte ich mich dann an diesen Song und wir fingen an, verschiedene Versionen auszuprobieren. Da war Steve wieder bei uns und als wir den Song ausprobierten, machte es klick, und wir wussten, dass es dieses Mal passen würde. Trotzdem hat uns der Song dann noch eine Menge Zeit gekostet. Es ist der älteste Placebo-Song und auch einer, der am längsten gebraucht hat, um fertig zu werden. Wir haben ihn oft verändert, um ihn in den moderenen Sound zu packen, den wir für das Album haben wollten. Auch "Brick Shithouse" mussten wir noch mal ändern. Der Song kam bei einem Soundcheck in Leipzig über uns, wir haben ihn dann nach der Tour noch mal überarbeitet.

Steve: Bei diesem Soundcheck fielen uns auch schon die Songstrukturen zu "Burger Queen" und "Evil Dildo" ein. Es war der produktivste Soundcheck, den wir je gemacht haben... der Gig war allerdings vollkommen scheiße.

Brian: Selbst Songs, die wir schon seit Jahren live spielen, verändern sich mit der Zeit. Wir arbeiten sie ständig um, weil wir nicht auch noch nach Jahren immer dasselbe spielen wollen. Du hast ja eben selbst unsere neue Version von "Teenage..." gehört. Das hat nicht mehr viel mit der Originalfassung des ersten Albums zu tun. Wir fanden, dass der Song viel tiefer gehen muss, dass unsere Emotionen noch nicht genug ausgedrückt werden. Also bauten wir das Piano mit ein und jetzt gefällt er uns viel besser.

Steve: Die Inspiration zu diesem Akustik-Set mit Piano kam uns während einiger Radiosessions, die wir während unserer Tour machten. Wir merkten, dass der Song auf einmal viel mehr ausdrücken konnte als vorher.

Brian: Das hat auch was mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein zu tun, von dem ich dir eben erzählt habe. Denn wir stellten fest, dass wir Instrumente wie Piano oder Akustikgitarre spielen können, also dachten wir uns, warum sollen wir uns einschränken, wenn wir es doch können? Wir beherrschen viele Instrumente, lasst sie uns doch auch benutzen. Das gerade macht die Songs doch auch viel komplexer. Dann haben wir das auch mal live ausprobiert und es funktionierte, das war richtig cool.


?: Ihr habt innerhalb kürzester Zeit vor 300 aber auch vor 100.000 (Barcelona) Zuschauern gespielt. Hattet ihr nicht Angst, vor so einem großen Publikum spielen zu müssen?

Brian: Nein, seltsamerweise niemals. Wir haben uns immer Mut zugesprochen, "come on, wir können die Meute da draußen verrückt machen, wir können es" und das hat uns richtig heiß gemacht. Wir sind verrückt danach, vor vielen Leuten zu spielen, ganz egal, ob sie wegen uns oder David Bowie da sind.

Steve: Unser Glück war vielleicht, dass es schon beim ersten Mal funktioniert hat. Wir haben beim ersten Gig vor David Bowie voll überzeugen können und uns danach immer gesagt: "Hey, was wir einmal geschafft haben, können wir auch immer wieder tun."

Brian: Als wir im Madison Square Garden gespielt haben, überschüttete uns das Publikum mit Ovationen und das gibt dir ein Gefühl des Dankens und du weißt, dass du es nie zurückzahlen kannst. Wir fühlen eine Art Verpflichtung, uns für soviel gute Vibes zu bedanken, dass wir immer versuchen, unser Bestes zu geben. Und das funktioniert nur, wenn wir es schaffen, wir selbst zu bleiben.


?: Wollt ihr dahin? Wollt ihr eine Stadion-Rock-Band werden?

Brian: Wenn wir einen Song schreiben, machen wir uns darüber keine Gedanken. Aber wenn wir auf einer Bühne stehen, dann ist es schöner, vor 100.000 Leuten zu spielen als vor 100. Es spornt dich mehr an, dein Bestes zu geben und ich habe viel mehr Gelegenheit, mich völlig zu vergessen und gedanklich in ein Meer aus Menschen einzutauchen, mit denen ich meine Gefühle tauschen will. So etwas fordert mich heraus. Aber wir schreiben keine Songs mit dem Hintergedanken, dass wir volle Stadien haben möchten. Wir sind keine Hit-Maschinerie. "Evil Dildo" ist zum Beispiel so ein Song, der mich live immer wieder schwer beeindruckt. Natürlich kannst du den Song nur zum Abschluss eines Konzertes spielen. Aber diese Wand aus Sounds, Feedbacks und Geschrammel, das haut mich immer wieder um. Das zeigt uns auch, dass wir fähig sind, alle extremen Arten von Gefühlen auszudrücken. "Evil Dildo" ist so fierce, horrible und violent und im Gegensatz dazu steht "Teenage..." als Ausdruck höchstmöglicher Zärtlichkeit. Wir sind fähig eine Skala mit den verschiedensten Emotionen aufzufüllen, wir haben kein Interesse daran, uns auf irgendwas limitieren zu lassen, sei es Stil, Emotionen oder Instrumentierung.


?: Würdest du mir zustimmen, wenn ich eure Spannbreite mit den Extremen von der Gewalt und Wut der Dead Kennedys bis hin zur Depression vonPortishead beschreibe?

Brian: Das ist phantastisch. Ja, das trifft es, genau da wollen wir hin. Außerdem sind es Bands, die ich sehr mag.

(Kurze interne Diskussion über den Vergleich)

Brian: Wir mögen den Vergleich wirklich, das ist cool. Mir scheint, du hast uns verstanden. Ich hoffe, du schreibst das wirklich.


?: Apropos Vergleiche. Nach dem ersten Album wurdest du oft mit Pavlov's Dog verglichen. Kannst du das nachvollziehen? Spielst du auch ein bisschen mit deiner androgynen Erscheinung?

Brian: Ich bin so wie ich bin, wenn jemand mit meiner Erscheinung spielt, dann sind es die Betrachter. Ich sagte ja schon, dass ich niemanden bewusst provozieren möchte, aber wenn jemand meint, etwas in mein Äußeres hineininterpretieren zu müssen, dann muss er das tun. Ich mag Reaktionen, aber sie sollten eindeutig sein. Wir wurden im übrigen auch mit vielen deutschen Bands verglichen, Can und Blixa Bargeld wurden ebenso oft erwähnt.

(Zum Schluss erzählt Brian noch mal von seiner Zusammenarbeit mit Steve)

Brian: Wir müssen einer Idee immer sofort nachgehen. Wenn wir etwas ausprobiert haben und es fängt an, uns zu gefallen, dann existiert für uns nichts mehr. Dann müssen wir den Weg bis zum Ende gehen, sonst ginge vieles verloren. Wenn der Song dann einigermaßen steht, fangen wir an, uns Gedanken über seine Aussage zu machen und ob wir mit der Musik erreichen können, was wir wollen. Weißt du, im Studio haben wir keine feste Rollenverteilung, wir wechseln uns ständig an den Instrumenten ab. Jeder von uns könnte alles auf dem Album gespielt haben, das hilft uns, einer Idee sofort Gestalt zu verleihen. Wenn ich zum Beispiel meine, da müsse ein andere Drum-Rhythmus rein, dann kann ich das sofort demonstrieren und muss nicht erst Steve bitten, mir solange was vorzutrommeln, bis einigermaßen stimmt, was ich meine. Und das gilt auch andersherum. Wenn Steve ein bestimmtes Riff im Auge hat, dann spielt er ihn mir gleich vor. Stefan kann das auch. So bringen wir uns alle in die Song ein und am Ende steht ein Placebo-, kein Brian oder Steve-Song. Und wir sind wahre Workaholics.


?: Das bedeutet, dass ihr auch außerhalb der Band, engen Kontakt zueinander habt?

Brian: Tatsächlich verlassen wir uns eigentlich niemals (Gelächter).

Steve: Guck uns an, sehen wir nicht so aus, als würden wir auch miteinander schlafen?

Brian: Placebo ist unser Leben, wir können einfach nicht aufhören, weiter Songs zu schreiben.


?: Ist das nächste Album also quasi schon fertig?

Brian: Wir hätten jetzt schon ein Doppel-Album herausbringen können, dreißig Songs haben wir geschrieben. Ein paar von denen werden wir auf den Singles veröffentlichen.


?: Wieviel Zeit bleibt da noch für euer eigenes Label?

Brian: Gar keine. Im Moment planen wir keine Veröffentlichungen, wir haben einfach keine Zeit, uns um andere Bands zu kümmern. Wir haben noch nicht einmal Zeit für's Zusammenarbeiten, nach denen wir oft gefragt werden und wovon wir auch einige sehr reizvoll fänden. Wir sind Fans von den Sneaker Pimps und wir haben schon seit langem vor, etwas zusammen zu machen, aber es fehlt einfach die Zeit. Vielleicht nach der Tour. Aber nebenbei auch noch A&R-Mann zu sein, das ginge im Moment wirklich nicht. Ich habe auf einer Single mitgesungen von einer Band, die sich G.C. Phone Club (?) nennt. Aber das war's.


?: Wenn ihr so busy seid, vermisst ihr dann nicht eure verlorene Privatsphäre, euer Leben außerhalb des Business'?

Brian: Manchmal, manchmal vermisse ich ein bisschen Normalität in meinem Leben. Oder mich betrinken zu können, ohne dass Leute darüber schreiben.


Source: discover